Die Bank unter der falschen Eiche

30. Juni 2025

Die Vögel zwitscherten und eine kühle Brise zerzauste Manfreds Haar. So oft er es auch zurechtrückte. Es geriet immer wieder ausser Kontrolle. Die Sonne strahlte angenehm warm auf seine Haut und er genoss die Stimmung, als er durch den Park schlenderte. Überall blühten Blumen, jede schöner als die zuvor, doch keine war so schön wie die Rosen, die Manfred in seiner Hand hielt. Sie waren zu einem perfekten Strauss zusammengebunden, wie er es mochte. Langsam bewegte er sich auf die Parkbank nahe der alten Eiche zu, dort würde er vermutlich auf die Liebe seines Lebens treffen. Laura. Er hatte sie vor einigen Monaten auf einer Dating-Plattform kennengelernt. Als sie damit begonnen hatten, sich zu schreiben, war er erst noch etwas skeptisch gewesen, denn auf den wenigen Fotos, die er von ihr gehabt hatte, sah sie immer etwas wild und chaotisch aus, doch die Worte, die sie ihm schrieb, reizten ihn jedes Mal aufs Neue. Sie waren so bedacht und erwärmend, einfach … Perfekt. Als Manfred schliesslich tief in Gedanken versunken am Treffpunkt ankam, gestattete er dem Bettler am Wegesrand vor Freude sogar eine kleine Spende.

*

Heute war es endlich so weit, heute würde sie ihn endlich treffen. Schon lange hat sie mit ihm geschrieben, viel zu lange für ihren Geschmack, es wurde Zeit, dass etwas geschah, dass sie mehr als nur ein Match waren. Vor Freude hopsend bewegte sie sich auf den Treffpunkt zu, zu der Bank unter der alten Eiche im Volksgarten… Er hatte das doch so geschrieben, oder? Jedenfalls hatte sie sich genau dort verabredet – sie war sich ganz sicher. Dort vorne würde er auf sie warten, sie zur Begrüssung umarmen und ihr Blumen überreichen. Als sie schliesslich am Treffpunkt ankam, schaute sie sich gespannt um, ob sie ihn entdecken konnte, doch auf die Schnelle konnte sie ihn nirgendwo sehen. Auf der Parkbank am Wegesrand sass ein altes Ehepaar, gleich daneben war eine Mutter mit ihrem Kind unterwegs und am Teich fütterte jemand die Enten, doch ihr Date war nirgends zu sehen. Ein schneller Blick auf ihr Handy zeigte ihr, dass sie keinen Strom mehr hatte. Es war bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis er auftauchen würde.

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Nun wartete Manfred schon ganze fünf Minuten auf Laura und sie war immer noch nicht da. Um Punkt zwölf hatten sie sich verabredet, alles war genau geplant. Sie würden sich auf einem kurzen Spaziergang durch den Park austauschen, anschliessend zusammen zu Mittag essen und danach noch in ein Café sitzen, um über alles Mögliche zu sprechen. Manfred schaute auf seine Uhr es war 11:56 Uhr und er konnte sie noch immer nirgends entdecken, langsam wurde er ungeduldig. Erste Wolken bildeten sich am Himmel. Das eben noch so strahlende Blau war von grauen Schleiern durchzogen und die Eiche warf einen langen Schatten auf den Boden. In der Ferne hörte man die Kirchenglocken klingen, es war zwölf. «Das darf doch nicht wahr sein», murmelte Manfred vor sich hin, «Wo bleibt sie nur?» War er ihr so unwichtig, dass sie gleich beim ersten Treffen zu spät kam. Manfred wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, doch er wusste genau, dass es ihn wütend machte. Jetzt war sie schon fünf Minuten zu spät, es fiel ihm schwer, sich unter Kontrolle zu halten, denn wenn es etwas gab, das er nicht ausstehen konnte, dann war es Unzuverlässigkeit. Wenn er mit einem Menschen etwas vereinbart hatte, dann war es ihm wichtig, dass man sich daran auch hielt, und er zeigte wenig Verständnis für Verspätung. Im Endeffekt aber blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten. Am Himmel verdichteten sich die Schleier langsam aber sicher zu einer dunkelgrauen Gewitterwolke und die Gegend um Manfred herum verdunkelte sich. Mit jeder Minute nahmen die Wut und die Ungeduld zu, er konnte förmlich das Ticken seiner Armbanduhr hören. Nach weiteren fünf Minuten war der Bogen überspannt, Manfred holte sein Handy hervor und schaute sich den Chatverlauf mit Laura an. Um Punkt zwölf bei der Bank unter der alten Eiche im Stadtgarten, so hatten sie sich doch verabredet, oder? Ja, hier stand es Schwarz auf Weiss, ganz klar der Stadtgarten. Nein, länger würde er definitiv nicht mehr warten, dachte er und rief sie an. Er liess es ein paar Mal klingeln, doch keine Reaktion. Er probierte es erneut, wieder keine Reaktion. Als Laura auch nach dem fünften Mal nicht antwortete, hatte er endgültig genug. Vermutlich war Laura nur eine erfundene Person, um ihn reinzulegen und er Dummkopf war darauf reingefallen. Andererseits hatte sie so echt gewirkt. «Nein», wies er sich selbst zurecht, Laura gibt es wohl gar nicht und er war so töricht darauf reinzufallen. Schnell blockierte er sie und löschte Laura aus seinen Kontakten. Die Blumen, die er ihr gekauft hatte, warf er in den Teich. Er war schon auf dem Nachhauseweg als die ersten Regentropfen die Erde erreichten.

*

Mist, dachte sie, jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Eine gute halbe Stunde wartete sie nun schon auf ihn und langsam bekam sie ihre Zweifel, ob er überhaupt noch kommen würde. Er hat bestimmt nur seine Bahn verpasst, sagte sie sich, aber was, wenn ihm etwas zugestossen ist, was wenn er einen Unfall hatte. Ausgerechnet jetzt hatte ihr Handy keinen Akku mehr, vielleicht hat er versucht, sie zu kontaktieren. Langsam, aber sicher wurden die Regentropfen grösser und mehr, der Himmel ergoss sich regelrecht über dem Volksgarten. Der Regen aber machte ihr nichts aus, vielmehr die Tatsache, dass er noch immer nicht aufgetaucht war. Noch lange wartete sie bei der Bank unter der alten Eiche im Volksgarten, ihr Traummann aber tauchte nicht auf. Der Regen fiel, als wollte er alles fortspülen: die Vorfreude, die Enttäuschung, die Hoffnung. Nur das Missverständnis blieb.